Freitag, 20. April 2012

Eine Frage der Würde


Copyright by Janet Hill www.janethillstudio.com
Voller Freude macht man sich für die bevorstehende Einladung zum Dinner bei neuen Freunden bereit. Zieht sich schön an. Achtet sorgfältig darauf, dass alles zusammen passt. Legt Make-up auf. Schlüpft in die fantastischen, neuen Schuhe, die perfekt zur letzte Woche gekauften Handtasche passen und das ganze Outfit komplettieren. Am Ausgang wird noch das Gastgeschenk geschnappt und schon ist man auf den Weg. Freut sich darauf, neue Leute kennen zu lernen, und ist etwas nervös, weil man auch den gutaussehenden Single-Mann treffen soll, der von den Freunden eingeladen wurde, weil man selbst auch gerade ohne Anhang ist. Die Vorfreude ist gross.

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Das Unheil beginnt, als der Treppenabsatz der besagten Wohnung ins Sichtfeld rückt. Dort stehen zwei Paar Herrenschuhe und ein Paar Damenschuhe vor der Türe. Da die Hoffnung bekanntlich zuletzt stirbt, denkt man sich ehrfurchtvoll, dass diese vorbildliche Familie eventuell so viele Schuhe besitzt, dass diese drei Paare einfach nicht mehr im Schrank Platz fanden. Dieser Hoffnungsschimmer erlischt, sobald die lächelnde Gastgeberin die Türe öffnet. Es ist nicht zu übersehen, dass ihre Füsse in hochgradig komfortablen Pantoffeln stecken. Sie trägt zwar ein hübsches Kleid, aber sie trägt dazu Hausschuhe, die wirklich wie Hausschuhe aussehen. Diese Hausdame begrüsst einen nun hocherfreut. Doch bevor man die heilige Schwelle übertritt, wird man darauf hingewiesen, doch tunlichst seine Schuhe draussen zu lassen, wegen des Schmutzes und des heiklen Parketts.

Ja sind wir denn in der Moschee? Oder in der Frauenbadi? Verlangt denn jemand von einem Gast, dass er seinen Pullover auszieht, weil dieser eventuell auf der Polstergruppe Fuseln hinterlässt, oder seine Hosen herunter lässt, weil es sein könnte, dass die Jeans auf die weissen Esszimmerstühle abfärben? Wer von seinen Gästen verlangt, dass sie sich für eine Dinner-Party ausziehen, sollte Einladungen besser ganz lassen. Und wer sich einen teuren Parkett leisten kann, sollte genügend Geld im Erneuerungsfond haben, damit er die High-Heel-Schäden reparieren lassen kann. Ausserdem wirft das Argument mit dem Strassenschmutz ein ganz schön schlechtes Licht auf die Gastgeber: Entweder sie sind zu faul, um zu putzen, oder zu geizig, eine Reinigungskraft dafür zu bezahlen.

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Es ist auf jeden Fall ein Fauxpas, seine Gäste zu bitten, die Schuhe auszuziehen, denn man könnte seine Freunde in eine äusserst unangenehme Lage bringen. Erstens fühlt sich nicht jeder in Socken, Strümpfen oder gar barfuss wohl, und zweitens will man es bei Tisch weder mit Fussschweiss, noch mit abgekauten Fussnägeln zu tun haben. Ganz zu schweigen von akutem Fusspilz, der sich im Sommer gerne unterm Glastisch von Fuss zu Fuss schleicht. Pfui! Aber das Schlimmste überhaupt ist die Tatsache, dass das gesamte Erscheinungsbild einer Frau zerstört wird, wenn man sie ihrer Schuhe beraubt. Es ist ihr unmöglich bei potentiellen Liebhabern Eindruck zu schinden, wenn sie in Strümpfen daher stampft!

Wenn Sie also wieder mal überlegen, ob Sie Ihre Besucher zur grossen „Zeigt her eure Füsse-Runde“ zwingen wollen, nehmen Sie sich die Queen zum Vorbild; denn im Buckingham Palast, wo überall wirklich teurer und sehr alter Parkett liegt, wird sie kaum vom Premierminister, der einmal monatlich zu Besuch kommt, verlangen, dass er seine handgenähten und tipp top gewienerten Schuhe beim Kammerdiener abgibt, weil die Steuerzahler ihr das Putzpersonal gestrichen haben. Eher schnappt sie sich nach seinem Besuch selbst den Wisch-Mob und flitzt einmal durch den Palast. Man merke: Menschen mit Würde tragen Schuhe. 

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